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Die Zeitlupe

Kennst du das? Sich allein in einer fremden Stadt treiben lassen. Absichtslosigkeit mischt sich mit Abenteuerlust und man wird offen für Begegnungen mit Orten und Menschen, mit denen man zu Hause niemals in Kontakt kommen würde.

Sicher wäre ich in meiner Heimatstadt an dieser Kneipe einfach vorbeigegangen. Wenn ich sie überhaupt wahrgenommen hätte, dann als heruntergekommene Säufer-Beiz, in der die Wracks des Quartiers allabendlich ihre kümmerliche Rente verprassen. So aber blieb ich an dem Namen auf dem brauerei-gesponsorten Leuchtschild hängen. In abblätternden Buchstaben stand über der Ecktür: „Die Zeitlupe“.

Wer um alles in der Welt kam auf den Gedanken, eine Kneipe so zu nennen? Und dann auch noch eine solche und das vor mindestens 40 Jahren, dem Zustand nach zu urteilen. Sie hätte vielleicht „Herta’s Tankstelle“ heißen können, oder „Südstadt-Beizle“, aber „Die Zeitlupe“?

Mittlerweile hatten meine müßig-gehenden Füße schon von sich aus die drei Stufen in Angriff genommen, ohne auf eine Entscheidung des Hauptquartiers zu warten. Hinter der quietschenden hölzernen Tür ein Windfang, gebildet von einem schweren weinroten Vorhang an einer halbkreisförmig gebogenen Stange. Dahinter eine andere Welt: Dämmerlicht, gedämpfte Geräusche, ein seltsam-schwerer Duft. Zehn Jahre lang gereifter Pfeifenrauch, antiquarische Möbel und getrocknete Kräuter.

Eine Nische mit Ohrensessel, Bücherregal und Stehlampe zog mich an. Während mich die angenehme Wärme in ihre Arme nahm, beobachtete ich den beleibten Wirt, der hinter dem Tresen behäbig mit einigen großen Vorratsgläsern hantierte, die an der Rückwand aufgereiht standen. Er nahm nach einander ein paar davon herunter, öffnete sie und verschloss sie wieder. Was er genau tat, war im Dämmerlicht nicht zu erkennen. Aber es dauerte.

Als ich schon unruhig wurde, weil ich gerne bestellt hätte, kam er mit einer dampfenden Schale an meinen Tisch. Statt meine Bestellung aufzunehmen, sagte er: „Das geht aufs Haus. Meine persönliche Mischung für Sie: Zehn Minuten Ewigkeit.“


Das ist ein Beitrag zu den ABC-Etüden, die auf dem Blog Irgendwas ist immer von Christiane ihre wohlgepflegte Heimat haben. Dabei geht es darum, rund um drei vorgegebene Wörter einen Text von höchstens 300 Wörtern zu drechseln.

Die drei „Lock-Wörter“ waren diesmal

Zeitlupe, behäbig, und verprassen

und wurden gespendet von Werner auf Mit Worten Gedanken horten.

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19 Kommentare zu „Die Zeitlupe

  1. Och Mensch. Ehe ich bei den ABC-Etüden ankam, dachte ich schon: Boah, da will ich auch mal hin…
    Aber auf jeden Fall eine tolle Idee, so etwas sollte es tatsächlich geben😃

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    1. Haha, das freut mich, dass du sozusagen reingefallen bist😊
      Dann scheint es mir ja gelungen zu sein, das Ganze sehr authentisch klingen zu lassen und nur am Ende ganz leicht ins Geheimnisvolle abgleiten zu lassen. Das war nämlich meine Absicht.

      Gefällt 1 Person

    1. Tja, das hast du mit deinen Wörtern aus meinen Hirnwindungen gekitzelt 😉👍
      Ich wollte die naheliegende Verbindung behäbig – Zeitlupe einfach nicht nutzen und hab dann nach möglichen Brücken zwischen verprassen und Zeitlupe gesucht…

      Gefällt 2 Personen

  2. Ja, ich schließe mich an: Wie war noch gleich die Adresse? 😉 Ich käme mit.
    Eine Kneipe, wo die Uhren anders gehen, out of time, out of space, out of events … Klingt nach einer echten Wohltat 👍
    Herzliche Abendgrüße und danke 🌔 🌟🌠🍷👍

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      1. Ich hab auch schon Mal mit dem Gedanken gespielt, ne Etüde in meinem Dialekt zu schreiben und sie dann mit Audio und Übersetzung zu veröffentlichen. Aber dafür eignen sich die meisten Wortspenden nicht, weil oft etwas abgehobene Wörter dabei sind, die man im Dialekt nie benutzen würde. Außerdem gehen Audios nur in der Bezahl-Version, glaube ich…

        Gefällt 1 Person

  3. also so eine Kneipe mit Ohrensessel und Bücherregal, Leseecke und Tee, lecker, da ginge ich auch mit. Und sich am Etüdenfeuer die Hände und Ohren wärmen, genial. Beim Zuhören der Etüden, wenn der Tee und das Feuer die Wirkung entfaltet, kann es passieren, dass ich kurz einnicke. Sorry, abe bei so einer herrlichen Entspannungsrunde, da braucht es keine Yoga mehr….Namaste

    Gefällt 1 Person

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