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Der schmale Grat zwischen Psycho und Somatik

Ja, der Mensch ist ein ganzheitliches Wesen, Körper und Seele sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Insofern finde ich für die allermeisten Erkrankungen Behandlungsansätze gut, die beide Seiten mit einbeziehen. Ich bin also ein ausgesprochener Fan von psychosomatischer Medizin.

Wie kommt es dann, dass ich im Zusammenhang mit ME/CFS eher auf Abwehr gehe, wenn die Rede von Psychosomatik ist? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ich will hier mal eine persönliche Annäherung an die vielschichtige Problematik versuchen, die dahinter steckt und die offenbar von vielen CFS-Patienten ähnlich erlebt wird. Aussagen wie „Dieser Arzt hat mich wiedermal in die Psycho-Ecke gestellt.“ oder „Mach bloß keine psychosomatische Reha, da kommst du kränker zurück, als du hingefahren bist!“ machen das deutlich.

Warum sind wir nicht dankbar, dass Ärzte auch seelische Aspekte mit in den Blick nehmen, die eine Rolle Spielen könnten? Wieso geht es häufig so schief, wenn die klassische Psychosomatik versucht, ME/CFS zu behandeln?

ME/CFS ist keine Form der Depression

Auf die zweite Frage gibt es zunächst eine recht einfache Antwort, die allerdings etwas oberflächlich ist: Die Verwechslung mit einer Depression und der daraus entspringende Versuch, die Krankheit mit einem aktivierenden Sportprogramm zu behandeln. Dies ist aber wegen der PEM (Post-Exertional Malaise = Verschlechterung nach Anstrengung) kontraindiziert. Ich habe die Hoffnung, dass dieses Problem in absehbarer Zeit nicht mehr bestehen wird, denn derzeit scheint sich die Wahrnehmung von ME/CFS im Gesundheitssystem zu ändern. Dank der vielen „Informations-Arbeit“ der Patientenverbände, der wenigen Forschenden und „dank“ der zusätzlichen Aufmerksamkeit aufgrund von Long-Covid scheint sich da langsam etwas zu tun.

Psychische Erkrankung?

Dass die Unterscheidung zwischen einem psychogenen Burnout und ME/CFS aus der Außensicht (also der des Arztes) nicht immer einfach ist verstehe ich gut. Und die Tatsache, dass manche Patienten unter ME/CFS, gerade wenn sie sich von Ärzten falsch verstanden oder nicht ernst genommen fühlen, tatsächlich depressiv werden, macht die Sache nicht einfacher.

Wenn ich ehrlich bin, muss ich auch zugeben, dass mein Verhalten auf Menschen, die die Erkrankung nicht sehr gut kennen, tatsächlich manchmal „gestört“ wirken könnte: Ich sehe gesund und sportlich aus, aber ich setze bzw. lege mich ständig irgendwo hin, um mich auszuruhen. Beim Spaziergang schleiche ich dermaßen langsam, dass ich sogar schon von einem alten Mann mit Krücken überholt wurde. Bei Arztbesuchen gerate ich schnell mal in Aufregung (Sympathikus-Überreizung) und meine, mich vehement verteidigen zu müssen, obwohl ich gar nicht angegriffen wurde. Dass derartiges seltsames Verhalten lediglich Folge der Erkrankung ist, bzw. Ausdruck gesunder Selbstfürsorge, ist für Außenstehende nicht nachzuvollziehen. In ihren Augen bin ich halt seltsam, und es liegt für sie nahe zu denken, bei mir würde psychisch was nicht stimmen.

Kollision von Grundannahmen

Hinter vielen Schwierigkeiten zwischen Patienten und Ärzten scheinen mir jedoch noch andere, tiefer liegende Probleme zu liegen, die mit dem Kollidieren verschiedener Grundannahmen über die Erkrankung zu tun haben. Das kann natürlich leicht passieren bei einer Krankheit, die noch nicht gut erforscht ist. Denn, wo man nichts Definitives weiß, bastelt sich jeder sein eigenes Bild zusammen, das aus aktuellen oder leider manchmal auch veralteten Forschungsergebnissen besteht, sowie aus Hypothesen über die noch nicht erforschten Dinge. Man wird kaum zwei Menschen finden, die dieselbe Vorstellung davon haben, was ME/CFS ist, wie es entsteht, und was bei der Behandlung helfen könnte. Seien es Patienten oder Ärzte.

Wo unterschiedliche derartige Vorstellungen aufeinander treffen, ohne dass offen darüber kommuniziert wird, kommt es natürlich zu Missverständnissen. Zeitknappheit bei Arztgesprächen verstärkt dieses Problem, so dass man unter Umständen komplett aneinander vorbei redet und sich nachher als Patient manchmal völlig unverstanden fühlt.

Meine persönlichen Grundannahmen sehen so aus: ME/CFS wird durch einen Infekt ausgelöst, auf den das Immunsystem und in der Folge auch das Nervensystem in ungewöhnlicher Weise und dauerhaft krankmachend reagieren. Die wichtigste Folge davon ist, dass die Mitochondrien in den Zellen nicht mehr richtig funktionieren und damit die chemische Energie aus der Nahrung nur eingeschränkt zur Verfügung steht. Für diese ungewöhnliche Reaktion des Körpers kann vielleicht eine genetische Disposition eine Rolle spielen und psychische Faktoren wie z.B. Stress könnten evtl. die Anfälligkeit für diese Erkrankung beeinflussen bzw. zu Beginn auch die Wahrscheinlichkeit für eine Chronifizierung. Ebenso könnte eine gute psychische Verfassung dabei helfen, wieder gesund zu werden.
Kurz gesagt: ME/CFS ist eine körperliche Erkrankung und braucht eine körperliche Behandlung, die es allerdings noch nicht wirklich gibt. Psychologische Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung ist sinnvoll, wie bei anderen chronischen Erkrankungen (z.B. MS, Mukoviszidose, Querschnittslähmung) auch.

Im Bereich der Psychosomatik und auch unter anderen Ärzten scheint mir nach wie vor folgende Grundannahme stark verbreitet: ME/CFS wird durch Stress und möglicherweise andere psychische Faktoren ausgelöst. Die schlechte Leistungsfähigkeit geht auf mangelnden Antrieb zurück wie bei einer Depression oder aber auf Ängste, sich anzustrengen, weil man glaubt, es schade einem. In der Folge tritt dann eine Dekonditionierung durch Bewegungsmangel auf. Dementsprechend müssen diese „Ursachen“ psychologisch behandelt werden, damit die körperlichen Symptome dann auch verschwinden können.
Kurz: ME/CFS (meist dann auch ohne das ME benannt) ist eine psychische Erkrankung, die vor allem auf dieser Ebene behandelt werden muss.

Bis hierher habe ich versucht, die unterschiedlichen Grundannahmen möglichst neutral und gleichberechtigt darzustellen, um sachlich festzustellen: Es gibt enorme Unterschiede in der Sichtweise auf diese Erkrankung. Es ist offensichtlich, dass es zu enormen Konflikten kommt, wenn diese unreflektiert aufeinandertreffen. Im Folgenden möchte ich wieder mehr aus der subjektiven Sicht meiner eigenen Grundannahmen schreiben, die ich allerdings auch für wissenschaftlich gut untermauert halte.

Gedankenexperiment

Was würde passieren, wenn ich mich einem Psychosomatiker mit der oben beschriebenen Ansicht anvertrauen würde? Zunächst einmal würde er versuchen, eine Depression bei mir zu behandeln, die ich gar nicht habe. Zudem würde er meine Vorsicht bei anstrengenden Tätigkeiten als Angststörung behandeln, obwohl sie durch die ganz reale Gefahr von PEM und Crash wohlbegründet ist. Und er würde mich immer wieder dazu antreiben, mehr zu tun, als mein Körper verträgt. Wenn ich mich nicht weigern würde, käme es also zu einer Verschlechterung, zumindest akut, wenn nicht sogar dauerhaft. Die Behandlung würde also meinem Körper schaden. Und sogar psychisch würde ich evtl. Schaden nehmen: Es ist ja eine enorme Anpassungsleistung, dass ich die Erkrankung als limitierenden Lebensumstand akzeptiert habe, der über Jahre, wenn nicht sogar für immer bestehenden wird, dass ich in mühevollem, oft schmerzhaften Try-and-Error-Prozess ein Gespür für das richtige Pacing entwickelt habe und dass ich trotz des Zusammenbruchs meines bisherigen Lebens nicht depressiv geworden bin. Diese Leistung würde von meinem fiktiven Psychosomatiker überhaupt nicht als solche erkannt, sondern im schlimmsten Fall sogar patologisiert: Aus Vorsicht beim Pacing wird eine Angststörung und aus gesunder Krankheitsakzeptanz wird der Vorwurf der Therapieverweigerung oder des Sich-Einrichtens in der selbst verschuldeten Misere. Das wäre für mich zutiefst verletzend, und wenn ich nicht stark genug wäre, meine Realität zu verteidigen, könnte ich existenziell verunsichert werden und dadurch doch noch in eine Depression rutschen.

Fazit

Diese Beschreibung war jetzt sehr plakativ, und ich bin auch nicht der Meinung, dass der Großteil der Psychosomatiker oder Ärzte dermaßen eindimensional denken würden. Ich möchte mit dieser Darstellung vor allem deutlich machen, dass manche ME/CFS-typische Probleme zwischen Patienten und Ärzten meiner Meinung nach auf solchen Kollisionen von Grundüberzeugungen beruhen, die jeder für sich als selbstverständlich betrachtet und über die deshalb zu wenig geredet wird und die zu wenig hinterfragt werden. Ich denke es ist für uns Patienten sehr wichtig, dass diese Ansichten vor einer Behandlung abgeglichen werden. Zumindest bei Patienten mit viel Wissen über die Erkrankung und solange die Forschungslage noch so diffus ist, dass es viele unterschiedliche Überzeugungen geben kann.

Und ehrlich gesagt, was schon noch erschwerend hinzukommt ist die Tatsache, dass viel zu viele Menschen, die mit ME/CFS-Patienten zu tun haben, bei weitem nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung sind und deshalb einfach überholte Grundüberzeugungen weitertradieren. Aber auch da habe ich den Eindruck, dass sich das beginnt zu ändern.
Doch auch auf Patientenseite gibt es bestimmt häufig Überzeugungen, die überdacht werden müssten, z.B. weil sie aus zweifelhaften Quellen stammen.
Aber man muss auch klar sagen, dass nicht vom Patienten verlangt werden kann, dass er solides Wissen über die Erkrankung hat, wohl aber sollte es zumindest genügend Ärzte geben, auf die das zutrifft. Damit kommen wir jetzt allerdings in den Bereich der Politik, den ich in diesem Beitrag aber ausklammern möchte, so wichtig und aktuell er auch ist.

Tja das sind also die Gründe, weshalb ich mit der Vorstellung, in eine psychosomatische Reha zu gehen, so meine Schwierigkeiten habe. Dabei könnte sie doch grundsätzlich wirklich sehr hilfreich sein, gerade beim Bewältigen der enormen Anpassungsleistungen (s.o.) die wir Patienten bewältigen müssen. Ja, und auch bei der Reduktion psychischer Faktoren, die eine Heilung behindern könnten.

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Ein Kommentar zu “Der schmale Grat zwischen Psycho und Somatik

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